Durch das Werk Picassos zieht sich eine geometrische Form, die als
Kompositionsfigur in der europäischen Malerei auf eine lange Tradition
verweist. Bei Picasso bildet sie 1907 die Grundlage eines geometrischen Kanon
für die menschliche Figur, der letztendlich auf die antike
Proportionslehre Vitruvs zurückgeht. Bereits 1902 aber verfügt
Picasso über ein lineares Schema zur Gliederung der Bildfläche,
welches die mit dem homo vitruvianus verbundene geometrische Figur
integriert.
Die Bemalung eines Paravent vom Winter 1918/19 demonstriert, wie Picasso durch
Auswahl und Erweiterung die genannte geometrische Gestalt variiert und eine
Form ableitet, die sich als zweite Grundfigur durch sein Werk zieht. Diese kann
als Ausschnitt aus dem tradierten Schema verstanden werden, bzw. als eine aus
möglichen Erweiterungen - durch Fortsetzung oder weitere Teilung der Figur
- resultierende Durchdringungsform. An weiteren Bildern und Skizzen
verschiedener Entstehungszeit lassen sich bildnerische Strategien belegen, die
in der Variation und Verknüpfung der geometrischen Grundlagen eine
Vielzahl von Möglichkeiten zeigen, aber gleichzeitig in ihrer Systematik
den Zusammenhang und die Ordnung der auf diese Weise entstehenden linearen
Figuren erhalten.
Die Entwicklung einer gemeinsamen geometrischen Ordnung für die menschliche Gestalt und die Gliederung der Bildfläche läßt schon 1907 die Absicht erkennen, "Klein"- und "Großstruktur" zur Deckung zu bringen, um die Synthese von Gegenstandsrepräsentation und Bildordnung herbeizuführen. Dabei geht es nicht um einen willkürlichen Akt der Verwandlung menschlicher Gestalt in geometrische Formen, sondern um die Übereinstimmung von Bildinhalt (Gegenständlichkeit) und Bildform (Abstrakte Ordnung). Je mehr die Gegenstände ihre Form dem naturalistischen Vorbild entlehnen, desto stärker muß die geometrische Form "gebeugt" werden. Gleichzeitig wird um so mehr eine expressiv stilisierende Kraft erfahren; die Integration in die formale Vorgabe geometrischer Ordnung gerät in einen Streit mit der naturalistischen Form, die in deren (interpretierter) "Zerstörung" resultiert. Die Lösung dieses Darstellungsproblems liegt letztlich in einer Abkehr von der naturalistischen "Seh-Form" zur "Denk-Form", d.h. zur flächigen Repräsentation der Dingmerkmale, zum konzeptuell entwickelten Zeichen, zur "Objektformulierung".[1]
Die untersuchten Arbeiten von Picasso aus dem Jahr 1907 und die Fortführung der formalen Ansätze im späteren Werk, deuten auf ein einheitliches Strukturprinzip hin. Es zeigt sich als ein wechselweises Ineinanderarbeiten und Zusammenfügen der Form des Bildgegenstandes, d.h. von innen nach außen, und der Flächengliederung, also von außen nach innen. Die Gestalt der Gegenstände entsteht aus der fortlaufenden Differenzierung der Grundfiguren innerhalb der Gesetzlichkeit der Flächengliederung. Die Gegenstände werden, als ein zunächst störendes" Element, in die durch sie modifizierte Ordnung integriert. Das Konzept beruht auf einer in der Grundstruktur einfachen, aber außerordentlich erweiterungsfähigen und kombinierbaren Formensprache.
Abschließend gilt an dieser Stelle mein besonderer Dank Herrn Professor
Hans Günter König, der mit seinen Untersuchungen zum bildnerischen
Handeln und zur Bildlogik Picassos überhaupt erst die Grundlagen und
Voraussetzungen zur formalen Analyse des künstlerischen Werkes schuf.
Seinen Hinweisen und Anregungen verdanke ich viel.
Bernd Schäfer